Zweihandsteuerung in der industriellen Automatisierung: Typen, Normen, Auswahl und Praxistipps

In vielen Maschinen läuft Produktivität nur dann sicher, wenn die Bedienperson beide Hände bewusst einsetzt. Genau hier greift die Zweihandsteuerung in der industriellen Automatisierung: Sie erzwingt die gleichzeitige Betätigung zweier Bedienelemente und verhindert so ein unbeabsichtigtes Anlaufen sowie den Kontakt mit bewegten Teilen. Richtig ausgelegt und nach ISO 13851:2019 umgesetzt, reduziert sie das Unfallrisiko signifikant – insbesondere an Pressen, Abkantmaschinen, Stanzanlagen oder Sondermaschinen mit gefährlichen Schließbewegungen.

Einordnung und Nutzen: Was ist eine Zweihandsteuerung in der industriellen Automatisierung?

Eine Zweihandsteuerung (Two-Hand Control Device, THCD) ist ein sicherheitsbezogenes Bedienelement, das nur dann ein Start- oder Zustimmsignal liefert, wenn die Bedienperson zwei getrennte Taster kurz hintereinander oder gleichzeitig betätigt und während des gefährlichen Bewegungsablaufs gedrückt hält – je nach Anwendungsfall. Dadurch hält die Bedienperson beide Hände fern von Gefahrenstellen, was das Risiko von Quetschungen, Amputationen und Schnittverletzungen deutlich senkt. Die Norm ISO 13851 definiert die funktionalen Anforderungen an solche Geräte, ordnet sie Typen zu und beschreibt, wie Hersteller und Integratoren die Architektur samt Diagnostik umsetzen.

Wichtig: Eine Zweihandsteuerung ersetzt keine andere Schutzeinrichtung, wenn die Risikobeurteilung zusätzliche Maßnahmen erfordert. Sie ergänzt Schutzgitter, trennende Schutzeinrichtungen, Lichtvorhänge oder Zustimmschalter und spielt ihre Stärken vor allem bei Einzelhub- und Taktprozessen aus.

Typen der Zweihandsteuerung in der industriellen Automatisierung nach ISO 13851

ISO 13851 unterscheidet drei Typen, die sich über Sicherheitsanforderungen, Wiederanlaufverhinderung und Synchronisationsüberwachung abgrenzen. In der Praxis koppelt man diese Typen an den erforderlichen Performance Level (PL) nach EN ISO 13849-1 beziehungsweise das Sicherheitsintegritätslevel (SIL) nach IEC 62061.

Typ I – Basisfunktion und Einsatzgrenzen

Typ I deckt Anwendungen mit geringem Risiko ab (typisch PL c/SIL 1). Die Taster müssen nicht synchron betätigt werden, und das System verlangt keine Reinitialisierung. Nach dem Loslassen kann eine erneute Einzelbetätigung wieder starten. Man setzt Typ I nur dort ein, wo andere Schutzmaßnahmen das verbleibende Risiko ausreichend mindern, etwa an Montagevorrichtungen mit niedrigen Kräften und Geschwindigkeiten.

Typ II – Anti-Repeat und höherer Schutz

Typ II erhöht die Sicherheit (typisch PL d/SIL 2), indem es eine Wiederanlaufverhinderung erzwingt. Nach einem Loslassen müssen beide Taster zunächst in Grundstellung zurückkehren und anschließend erneut gedrückt werden. Eine zeitliche Synchronisierung ist nicht zwingend. Das schützt besser vor unbeabsichtigten Folgezyklen – sinnvoll zum Beispiel bei mittelgroßen Pressen oder Anlagen mit erhöhtem Verletzungsrisiko.

Typ III – Synchronisation ≤ 0,5 s und Reinitialisierung

Typ III adressiert Anwendungen mit hohem Risiko (typisch PL e/SIL 3). Hier zählen zwei zusätzliche Anforderungen: Eine Synchronisation stellt sicher, dass beide Taster innerhalb eines Zeitfensters von maximal 0,5 s betätigt werden, und eine Reinitialisierung verhindert jeden automatischen Wiederanlauf. Lässt die Bedienperson eine Hand los, stoppt die gefährliche Bewegung oder bleibt aus; für den nächsten Zyklus muss sie beide Taster erneut betätigen.

Subtypen IIIA und IIIC: Verdrahtung und Diagnostik

Bei IIIA verbindet man die Kontakte der beiden Taster meist in Reihe, was die Architektur vereinfacht, aber die Diagnostik einschränkt. Bei IIIC führt man beide Kanäle getrennt, überwacht sie unabhängig und erreicht so eine bessere Fehlererkennung. IIIC ist erste Wahl, wenn die Risikobeurteilung höchste Verfügbarkeit und präzise Diagnose fordert – etwa an großen Pressen, Abkantmaschinen oder industriellen Hämmern.

Auswahlkriterien: Risikobeurteilung, Maschine und Funktion

Die Auswahl des Typs folgt immer der Risikobeurteilung: Welche Gefährdungen treten auf? Wie hoch sind Energien, Kräfte, Geschwindigkeiten und die Expositionshäufigkeit? Welche Schwere hat ein möglicher Schaden? Zusätzlich prüfen Integratoren die Bedienaufgabe (Einzelhub, Halten zum Fahren, Taktbetrieb), den erforderlichen Performance Level und die Umgebung (Staub, Feuchte, Temperatur, medienbeständig, ATEX).

  1. Risikobeurteilung: Gefährdungen, Schadenausmaß, Exposition, Vermeidbarkeit.
  2. Maschineneigenschaften: Bewegungsprofile, verfügbare Stopptypen und Stoppzeiten.
  3. Funktionale Anforderungen: Synchronisation, Anti-Repeat, Haltefunktion, Einrichtbetrieb.
  4. Architektur: Zweikanaligkeit, Überwachung, Diagnoseabdeckung, Fehlerreaktion.
  5. Ergonomie: Tasterabstand, Arbeitshöhe, Sicht auf den Prozess, Ermüdungsminimierung.

Beispiel: Eine schnelllaufende Presse mit hoher Schließkraft verlangt in der Regel Typ III (vorzugsweise IIIC) und eine sicher überwachte Zweikanalstruktur bis PL e. Bei einer Handhabungsstation mit begrenzter Kraft und niedriger Geschwindigkeit kann Typ II genügen – sofern die Risikobeurteilung dies stützt.

Zweihandsteuerung in der industriellen Automatisierung: Stoppzeit, Sicherheitsabstände und ISO 13855

Neben der funktionalen Umsetzung bestimmt die Stoppzeit der Maschine den nötigen Sicherheitsabstand. ISO 13855 liefert dazu Berechnungsregeln. Entscheidend ist, dass die Maschine bei Loslassen eines Tasters rechtzeitig zum Stillstand kommt, bevor die Hand die Gefahrenstelle erreicht. Dazu berücksichtigt man die Gesamtreaktionszeit (Sensorik, Auswertung, Aktorik) und die Annäherungsgeschwindigkeit der Hände.

Ein einfaches Rechenbeispiel: Beträgt die Stoppzeit 0,3 s und setzt man die Annäherungsgeschwindigkeit der Hand mit 2 m/s an, ergibt sich ein Mindestabstand von d = 0,3 s × 2 m/s = 0,6 m. Die Taster der Zweihandsteuerung positioniert man folglich so, dass der Abstand zur Gefahrenstelle mindestens 600 mm beträgt. Dieser Abstand stellt sicher, dass die Maschine stoppt, bevor die Hand den Gefahrbereich erreicht.

Ergänzend gilt: Die Taster müssen so weit auseinander liegen, dass eine Hand nicht beide gleichzeitig betätigen kann. ISO 13851 sieht hierfür Mindestabstände vor (in der Praxis häufig ≥ 260 mm, oft 300 mm). Schutzkragen oder versenkte Betätiger verhindern das Auslösen mit dem Ellbogen, der Hüfte oder Gegenständen.

Elektrische vs. pneumatische Zweihandsteuerung in der industriellen Automatisierung

ISO 13851 adressiert Zweihandsteuerungen unabhängig vom Energieprinzip. Beide Welten haben ihren Platz:

  • Elektrische Ausführung: Häufig mit Sicherheitsrelais oder Sicherheits-SPS umgesetzt. Sie erlaubt flexible Logik (Synchronisationsfenster, Anti-Repeat, Taktsteuerung) und eine detaillierte Diagnose. Typisch für Standardmaschinen, Sondermaschinenbau und Retrofit-Projekte.
  • Pneumatische Ausführung: Bewährt in rauen Umgebungen mit Feuchte, Staub oder in explosionsgefährdeten Bereichen (ATEX), weil sie ohne elektrische Komponenten am Bedienelement auskommt. Realisiert wird sie mit 3/2-Ventilen, pneumatischer UND-Logik und sicherheitsgerichteten Brems- bzw. Entlüftungsstufen.

Wer in EX-Zonen arbeitet, profitiert von pneumatischen Systemen, weil sie das Zündrisiko durch elektrische Funken an der Bedienstelle minimieren. In beiden Varianten gilt: Die Sicherheitsfunktion muss den geforderten PL/SIL erreichen. Das umfasst die Auswahl passender Komponenten, die korrekte Architektur (Zweikanaligkeit), die Reaktionszeit, die Diagnoseabdeckung und die Validierung der Sicherheitsfunktion.

Rechtlicher Status und Konformitätsbewertung in der EU

Zweihand-Bedienpulte zählen in der EU zu den Sicherheitsbauteilen. Das geht aus der Maschinenrichtlinie 2006/42/EG (Anhang V) und der Nachfolgeregelung, der Maschinenverordnung 2023/1230 (Anhang II), hervor. Hersteller müssen die grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsschutzanforderungen erfüllen und die vorgeschriebenen Konformitätsverfahren anwenden.

In der Praxis laufen zwei Schritte: Zuerst die EU-Baumusterprüfung (Modul B), anschließend die interne Fertigungskontrolle (Modul C). Nach erfolgreicher Bewertung bringt der Hersteller das CE-Zeichen an und stellt die Konformitätserklärung aus. Integratoren müssen das Bauteil korrekt in die Maschine einbinden, die Sicherheitsfunktion nachweisen und in die Gesamtkonformität der Maschine einfließen lassen.

Ergonomie, Montage und Manipulationssicherheit bei Zweihandsteuerung in der industriellen Automatisierung

Eine sichere Steuerung nutzt wenig, wenn Bedienende sie im Alltag umgehen. Deshalb kombiniert man die funktionalen Anforderungen mit kluger Gestaltung:

  • Tasterabstand und -position: So montieren, dass eine Hand unmöglich beide Taster erreicht. Arbeitshöhe an Körpermaße anpassen, Sicht auf den Prozess freihalten.
  • Schutzkragen/versenkte Taster: Unbeabsichtigtes Auslösen durch Gegenstände verhindern.
  • Klares Feedback: Optische Anzeige für „bereit“, „Zyklus aktiv“, „Fehler/Reinitialisierung erforderlich“.
  • Prozesslogik: Während der gefährlichen Bewegung darf das System keinen Startimpuls annehmen, solange nicht beide Taster ordnungsgemäß betätigt sind.
  • Keine Brückung: Mechanische Maßnahmen und Überwachung so auslegen, dass man Taster nicht mit Klebeband, Werkzeugen oder Gewichten überlisten kann.

Ergonomie reduziert Ermüdung und fördert die konsequente Nutzung. Das senkt die Versuchung, die Sicherheitseinrichtung zu umgehen – und erhöht die tatsächliche Wirksamkeit im Alltag.

Häufige Implementierungsfehler bei Zweihandsteuerung in der industriellen Automatisierung

In Audits und Abnahmen tauchen immer wieder ähnliche Schwachstellen auf. Wer sie kennt, spart Zeit und Nacharbeit:

  • Fehlende Reinitialisierung: Nach einem Loslassen akzeptiert das System sofort wieder einen Start – das widerspricht den Anforderungen bei Typ II und Typ III.
  • Keine oder falsche Synchronisationsüberwachung: Das Zeitfenster von 0,5 s wird nicht geprüft oder zu großzügig ausgelegt.
  • Unzureichende Zweikanaligkeit: Gemeinsame Leitungsführung ohne getrennte Überwachung, keine Querschluss- und Erdschlussüberwachung, fehlende Diagnose.
  • Falsche Positionierung: Taster zu nah beieinander oder zu nah an der Gefahrenstelle – Sicherheitsabstände nach Stoppzeit fehlen.
  • Manipulierbare Betätiger: Freiliegende Taster ohne Schutzkragen, leicht mit Hilfsmitteln brückbar.
  • Unklare Betriebsarten: Zweihandsteuerung wirkt auch im Automatikmodus oder bei Einrichtbetrieb, obwohl andere Schutzprinzipien gelten sollten.
  • Vermischung mit Not-Halt: Zweihandsteuerung ersetzt keinen Not-Halt. Der Not-Halt muss unabhängig und jederzeit wirksam bleiben.

Zusätzlich passieren Fehler in der Dokumentation: fehlende Validierungsnachweise, unvollständige Schaltpläne, nicht geprüfte Sicherheitsfunktionen. Planen Sie Validierung und Prüfungen von Beginn an ein.

Validierung, regelmäßige Prüfung und Instandhaltung

Die Sicherheitsfunktion „Zweihandsteuerung“ muss man nach der Integration validieren. Dazu gehören Funktionsprüfungen (Anti-Repeat, Synchronisation, Fehlerreaktion), Messungen der Reaktions- und Stoppzeiten sowie ein Abgleich mit der Risikobeurteilung und den geforderten PL/SIL-Werten. Nutzen Sie die Herstellerangaben der Komponenten (B10d, MTTFd, DC, CCF) und dokumentieren Sie die Berechnung der Performance nach EN ISO 13849-1 bzw. SIL nach IEC 62061.

Im Betrieb sichern regelmäßige Prüfungen die Wirksamkeit: Testen Sie täglich die Funktion (beide Taster müssen für einen Start nötig sein; Loslassen stoppt oder verhindert jede Bewegung), führen Sie periodische Inspektionen durch (Tastermechanik, Schutzkragen, Dichtungen, Verdrahtung, Pneumatik) und prüfen Sie in festgelegten Intervallen die Reaktionszeit. Schulen Sie das Personal, dokumentieren Sie alle Prüfungen und beheben Sie Abweichungen sofort.

Fazit: Warum die richtige Zweihandsteuerung in der industriellen Automatisierung den Unterschied macht

Die Zweihandsteuerung schützt wirkungsvoll, wenn Sie sie passend zum Risiko wählen, korrekt positionieren und stringent überwachen. Typ III – idealerweise IIIC – bleibt die erste Wahl für Hochrisikoanwendungen wie Pressen oder Abkantmaschinen. Kombiniert mit der korrekten Stoppzeitbetrachtung nach ISO 13855, einer manipulationssicheren Montage und einer sauberen Validierung erreicht die Sicherheitsfunktion zuverlässig den geforderten PL/SIL. So schützen Sie Menschen, vermeiden Stillstände und erfüllen gleichzeitig die EU-rechtlichen Anforderungen – ohne Kompromisse.

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