Sichere Maschinengeschwindigkeit: Normen, Praxis und Funktionen jenseits des reinen Tempolimits

Viele Teams sprechen über „sichere Maschinengeschwindigkeit“, wenn sie in Service-, Einricht- oder Handbetrieb arbeiten. Das klingt logisch: weniger Tempo, weniger Risiko. Doch stimmt das immer? Ein Industrieroboter im Teach-Modus darf mit 250 mm/s fahren und gilt als beherrschbar. Eine Presse im Einrichtbetrieb läuft mit 10 mm/s oft deutlich langsamer – und bleibt dennoch kritisch. Sicherheit entsteht nicht aus einer Zahl, sondern aus der Kombination aus Geschwindigkeit, Energie, Masse, Kraft, Reaktionszeit und einer soliden Risikobeurteilung. In diesem Beitrag ordne ich ein, was wirklich zählt, wie Normen die Leitplanken setzen und wie du eine sichere Maschinengeschwindigkeit in der Praxis belastbar umsetzt.

Du erhältst konkrete Grenzwerte aus relevanten Normen, verstehst die dahinterliegenden Gefährdungen und lernst Funktionen kennen, die Geschwindigkeit und Kraft sicher begrenzen. Ein Praxisbeispiel zeigt, wie SLS und STR im Servicebetrieb zusammenwirken. Abschließend bekommst du ein pragmatisches Vorgehensmodell und eine Checkliste typischer Fehler.

Was sagen Normen zur sicheren Maschinengeschwindigkeit?

Den Begriff als Definition findest du in Normen selten. Dennoch liefern mehrere Normen klare Grenzwerte und Methoden, um Risiken zu reduzieren. Für Roboter nennt EN ISO 10218‑1 den Teach-Modus mit maximal 250 mm/s. Für mechanische und hydraulische Pressen begrenzen sektorspezifische Normen den Schieber im Einrichtbetrieb auf 10 mm/s. In Anlagen zur Gummi- und Kunststoffverarbeitung (z. B. Rollenantriebe) legt EN 13418 15 m/min (≈ 250 mm/s) für Rollen und 5 m/min (≈ 83 mm/s) für andere bewegte Teile fest. EN ISO 14120 stellt für bewegliche trennende Schutzeinrichtungen Grenzen an die Bewegungsenergie beim Schließen: 10 J mit zusätzlichen Schutzeinrichtungen (z. B. Schaltleisten), 4 J ohne.

Wichtig: EN ISO 13855 fordert, die Anhaltewege und die Reaktionszeiten von Mensch und Steuerung zu berücksichtigen. Geschwindigkeit ist also nur ein Teil; erst die Relation aus Annäherungsgeschwindigkeit, Anhaltezeit und Sicherheitsabstand ergibt ein belastbares Schutzziel.

Roboter im Teach-Betrieb: Funktionskette statt reines Tempolimit

Der Wert 250 mm/s für das Teach-Fahren steht nicht allein. Die Norm verlangt eine Steuerung mit dreistufigem Zustimmtaster am Teach Pendant: In Mittelstellung darf der Roboter fahren, beim Loslassen oder Durchdrücken löst er sofort das sichere Stillsetzen aus. Zusätzlich überwacht eine sichere Geschwindigkeitsfunktion die Grenze – überschreitet die Achse den Sollwert, folgt ein sicherer Stopp. Erst das Zusammenspiel aus Betriebsartenwahl, Zustimmtaster, sicherer Geschwindigkeitsüberwachung (SLS) und sicherem Stillsetzen (z. B. SS1/SS2 in Kombination mit STO) macht den Wert „250 mm/s“ beherrschbar.

Kernaussage: Eine Zahl ist nie „per se“ sicher. Die Kette aus festgelegtem Grenzwert, sicherer Überwachung und menschlicher Kontrolle definiert die sichere Maschinengeschwindigkeit im Teach-Betrieb.

Energie, Masse und Kraft: Warum Tempo allein nicht schützt

Gefährdungen entstehen durch Energie und Kraft, nicht durch Geschwindigkeit allein. Ein Blatt Papier (≈ 5 g) mit 1 m/s trägt kaum kinetische Energie und bleibt harmlos. Ein 1‑g‑Metallsplitter, der ins Auge trifft, kann bei ähnlicher Geschwindigkeit schwere Verletzungen verursachen. Steigen Masse und starre Geometrie, steigt die Gefährdung drastisch.

Ein 1‑kg‑Stahlkörper mit 1 m/s besitzt 0,5 J kinetische Energie. Trifft er und kommt sofort zum Stillstand, wirkt die Energie im Aufprallmoment. Fährt ein Antrieb dagegen mit nur 0,1 m/s weiter und klemmt eine Hand, entscheidet die wirkende Kraft über Schwere und Dauer der Verletzung. Für das Schutzziel ist daher entscheidend, ob eine Anlage nach der Berührung weiter Kraft aufbringt oder sicher stoppt – und wie hoch Kraft bzw. Drehmoment begrenzt sind.

Praxisnahe Schwellenwerte aus EN ISO 14120

  1. Bewegungsenergie beim Schließen beweglicher Schutzeinrichtungen
    • 10 J mit zusätzlichen Schutzeinrichtungen (z. B. Schaltleisten)
    • 4 J ohne zusätzliche Schutzeinrichtungen
  2. Kontaktkräfte
    • ≈ 150 N mit zusätzlichen Schutzeinrichtungen
    • ≈ 75 N ohne zusätzliche Schutzeinrichtungen

Diese Grenzen adressieren zwei Szenarien: den einmaligen Impakt und das weitere Drücken nach dem Kontakt. Senkst du nur die Geschwindigkeit, lässt aber die Kraft unbegrenzt, bleibt das Quetschrisiko bestehen. Ziel ist daher eine Kombination aus sicherer Begrenzung von Geschwindigkeit und Kraft sowie ein sicheres Stillsetzen bei Grenzwertverletzung.

Merke: Die sichere Maschinengeschwindigkeit existiert nicht isoliert. Erst die Begrenzung von Energie und Kraft plus eine wirksame Stopp-Strategie schafft ein robustes Sicherheitsniveau.

Werkzeuge und Funktionen für sichere Maschinengeschwindigkeit

Der Schlüssel liegt in Funktionen, die Grenzwerte nicht nur vorgeben, sondern technisch durchsetzen. Neben Betriebsartenwahl und ergonomischer Bedienung zählen dazu funktionale Sicherheitsfunktionen im Antrieb und in der Steuerung. Sie müssen gemäß Risikobeurteilung den geforderten Performance Level (EN ISO 13849‑1) oder SIL (IEC 62061) erreichen.

Sicherheitsfunktionen im Steuerungssystem: Fundament der sicheren Maschinengeschwindigkeit

  • SLS – Safely Limited Speed: Überwacht die Geschwindigkeit in Echtzeit. Bei Überschreitung erfolgt ein sicherer Stopp, typischerweise SS1 oder SS2. Unverzichtbar in Teach-, Einricht- und Servicebetriebsarten.
  • STO – Safe Torque Off: Schaltet das Drehmoment sicher ab. Ideal für Not-Halt-Ketten und als Endzustand nach SS1.
  • SS1 / SS2 – Safe Stop 1/2: Führt ein kontrolliertes Abbremsen durch. SS1 endet in STO, SS2 hält die Achse drehmomentbeaufschlagt in Position.
  • SLP / SSM / SDI: Sichere Positionsbegrenzung, sicherer Geschwindigkeitsmonitor, sichere Richtungserkennung – je nach Anwendung definierst du so sichere Arbeitsfenster.
  • STR – Safe Torque Range: Begrenzung des zulässigen Drehmoments bzw. der resultierenden Kraft. Essenziell, wenn ein weiteres Drücken nach Kontakt zu vermeiden ist.

Diese Funktionen entfalten ihre Wirkung erst zusammen mit einer sauberen Betriebsartenlogik, einer klaren Zugriffsorganisation und geeigneten Bedienelementen. Definiere die zulässigen Grenzwerte je Betriebsart, dokumentiere sie in der Risikobeurteilung und validiere die Funktionalität.

Bedienhilfen und Sensorik am Arbeitsplatz

  • Dreistufige Zustimmtaster: Zulassen in Mittelstellung, sicheres Stillsetzen bei Loslassen oder Durchdrücken. Ideal für Handführung und Teach.
  • Schaltleisten, Sicherheitsmatten: Erkennen Kontakt bzw. Anwesenheit in Gefahrenbereichen und lösen einen sicheren Stopp aus.
  • Sichere Drehzahl‑/Wegsensorik: Liefert die Messwerte, die SLS, SLP oder SDI benötigen.

Praxis-Tipp: Definiere Grenzwerte nicht „aus dem Bauch“, sondern hergeleitet aus Energie, Kraft, Anhalteweg und Prozessanforderung. Verifiziere anschließend die tatsächlichen Anhaltezeiten in der Anlage.

Praxisbeispiel: Bahnverarbeitung im Service – sichere Maschinengeschwindigkeit und Drehmomentbegrenzung

Eine Linie verarbeitet flexible Bahnware (Folie, Gummi, Vlies). Zum Anfahren muss eine Bedienperson die Bahn zwischen Andruck- und Antriebswalzen einfädeln. Die Materialeigenschaften verhindern eine vollständige Automatisierung dieses Schritts. Der Servicebetrieb reduziert zwar die Geschwindigkeit, aber ohne zusätzliche Maßnahmen bleibt das Quetschrisiko zwischen den Walzen bestehen.

Ausgangslage und Risiken

  • Manuelle Führung im Gefahrenbereich.
  • Rotierende Walzen mit potenziell hoher Anpresskraft.
  • Unklare Anhaltezeiten und kein verifizierter Grenzwert für Kraft/Drehmoment.

Lösung: SLS + STR + Zustimmtaster, sauber validiert

  • SLS im Service: Begrenze die Walzengeschwindigkeit auf einen Wert, der eine sofortige Reaktion ermöglicht (z. B. 5 m/min ≈ 83 mm/s). Die sichere Überwachung stoppt bei Überschreitung.
  • STR aktiv: Beschränke das verfügbare Drehmoment so, dass die resultierende Kraft an der Walzenlinie eine definierte Grenze nicht überschreitet (z. B. 20 N). Damit bleibt ein Kontakt zwar möglich, ein gefährlicher Einzug jedoch nicht.
  • Zustimmtaster erforderlich: Die Walzen drehen nur bei gedrückter Mittelstellung. Loslassen oder Durchdrücken löst das sichere Stillsetzen aus.
  • Validierung: Messe die Anhaltezeit der Walzen unter realer Last, dokumentiere die maximale Kontaktkraft und belege die erreichten PL/SIL-Werte.

Das Ergebnis: Die Bedienperson führt die Bahn kontrolliert ein. Eine Grenzwertverletzung beendet die Bewegung geordnet, und die Kraft bleibt in einem ungefährlichen Fenster. So entsteht echte Beherrschbarkeit – weit über „langsam fahren“ hinaus.

Vorgehensmodell: In 6 Schritten zur sicheren Maschinengeschwindigkeit

  1. Gefährdungen ermitteln: Alle Betriebsarten, Eingriffe, Bewegungen, Massen, Kräfte, Energien sammeln. Besondere Aufmerksamkeit für Service-, Einricht- und Handbetrieb.
  2. Szenarien definieren: Kollisions-, Quetsch-, Scher- und Einzugssituationen beschreiben. Festlegen, ob nach Kontakt ein weiteres Drücken möglich ist.
  3. Grenzwerte ableiten: Aus Energie, Masse, Kraft, Anhaltezeit und Sicherheitsabstand die zulässige Geschwindigkeit je Betriebsart bestimmen. Normative Schwellen (z. B. EN ISO 14120, EN 13418, EN ISO 10218‑1) berücksichtigen.
  4. Sicherheitsfunktionen auswählen: SLS, SS1/SS2, STO, ggf. STR/SLP/SSM konfigurieren. Erforderlichen PL oder SIL gemäß EN ISO 13849‑1 bzw. IEC 62061 festlegen.
  5. Implementieren und validieren: Testroutinen fahren, Anhaltezeiten messen, Grenzwertüberwachung verifizieren, Fehlerreaktionen prüfen. Ergebnisse dokumentieren.
  6. Schulen und betreiben: Betriebsartenlogik erklären, Zustimmtaster trainieren, Prüfintervalle definieren, Änderungen kontrolliert managen.

Häufige Fehler und wie du sie vermeidest

  • Nur Geschwindigkeit reduzieren: Ohne Kraft-/Drehmomentbegrenzung bleibt das Quetschrisiko. Abhilfe: STR oder mechanische Begrenzung ergänzen.
  • Grenzwerte ohne Daten festlegen: Werte müssen auf Anhaltezeiten, Massen und Abständen basieren. Abhilfe: messen, berechnen, dokumentieren.
  • Unvollständige Betriebsartenlogik: Fehlende Freigabebedingungen oder Umgehungsmöglichkeiten hebeln Sicherheitsfunktionen aus. Abhilfe: klare Betriebsartenwahl mit Schlüsselschaltern und Zugriffsmanagement.
  • Keine Validierung: Ungeprüfte Annahmen führen zu Schein-Sicherheit. Abhilfe: Prüfpläne, Messprotokolle, regelmäßige Wiederholungsprüfungen.
  • Bediener nicht eingebunden: Fehlbedienung gefährdet das Konzept. Abhilfe: Schulung, visuelle Anzeigen, klare SOPs.

Fazit: sichere Maschinengeschwindigkeit ist kein fixer Wert

Eine Zahl allein macht keine Anlage sicher. Du definierst eine sichere Maschinengeschwindigkeit, wenn du sie aus Energie, Masse, Kraft, Anhaltezeit und Abstand herleitest, sie mit SLS/SS1/SS2/STO technisch durchsetzt, bei Bedarf STR zur Kraftbegrenzung ergänzt und die Gesamtlösung validierst. Normen liefern dafür klare Leitplanken. Erst im Zusammenspiel aus Technik, Organisation und Qualifikation entsteht echte Sicherheit – im Automatikbetrieb ebenso wie beim Einrichten, Teach-Fahren oder im Service.

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