DIN EN IEC 61508 – die universelle Grundlage der funktionalen Sicherheit: Leitfaden für SIL, Branchen und Praxis

Wer komplexe Steuerungen entwickelt, betreibt oder bewertet, begegnet ihr zwangsläufig: DIN EN IEC 61508 – die universelle Grundlage der funktionalen Sicherheit. Die Norm definiert Prinzipien, Rollen und Nachweise, mit denen Unternehmen das Risiko in elektrischen, elektronischen und programmierbaren elektronischen Systemen (E/E/PE) wirksam beherrschen. Im Zentrum stehen vier Pfeiler: der Safety Lifecycle, die SIL-Philosophie, das Management der funktionalen Sicherheit sowie vollständige, prüfbare Dokumentation. Dieser Beitrag ordnet die Norm ein, erklärt ihre Ableitungen in einzelnen Branchen und zeigt, wie Sie sie praxisnah und wirtschaftlich umsetzen.

DIN EN IEC 61508 – die universelle Grundlage der funktionalen Sicherheit: Warum sie für jede Industrie zählt

Die Norm entstand nicht für eine einzelne Domäne, sondern als Referenzrahmen für unterschiedliche Industrien. Sie liefert Prinzipien, die unabhängig von Anlagentyp und Technologie tragen: systematische Gefährdungsanalyse, risikobasierte Auslegung von Sicherheitsfunktionen, strukturierte Entwicklung von Hardware und Software, verifizierbare Tests sowie qualifikationsgebundenes Arbeiten über den gesamten Lebenszyklus. Genau deshalb bilden branchenspezifische Normen – von Maschinenbau über Bahn und Prozessindustrie bis hin zu Kernenergie und Luftfahrt – ihre Grundideen ab und präzisieren sie für die jeweilige Praxis.

  • Sicherheitslebenszyklus statt Einmalprüfung: Planung, Spezifikation, Design, Implementierung, Inbetriebnahme, Betrieb, Änderung und Stilllegung – jede Phase zählt.
  • Safety Integrity Levels (SIL) als Zielgrößen für die geforderte Zuverlässigkeit einer Sicherheitsfunktion – quantifiziert über PFDavg (niedrige Anforderungsrate) oder PFH (hohe Anforderungsrate).
  • Management der funktionalen Sicherheit: klare Rollen, Unabhängigkeit bei Reviews, definierte Verifikations- und Validierungsaktivitäten, Kompetenznachweise.
  • Dokumentation als Rückgrat: lückenlose Nachvollziehbarkeit von Annahmen, Entscheidungen, Berechnungen, Tests und Änderungen.

Branchen und Ableitungen der Norm

Viele Industrien übernehmen die 61508-Prinzipien und formen daraus konkret handhabbare Regeln, Prüfmethoden und Akzeptanzkriterien. Die folgenden Beispiele zeigen, wie sich die Basisnorm in den wichtigsten Sektoren niederschlägt – jeweils mit typischen Anwendungsfällen.

Maschinen: EN 62061 und ISO 13849-1 im Kontext von DIN EN IEC 61508 – die universelle Grundlage der funktionalen Sicherheit

Im Maschinen- und Anlagenbau strukturieren EN 62061 und ISO 13849-1 die Umsetzung von Sicherheitsfunktionen. Beide orientieren sich in Konzept und Methodik klar an 61508. Während EN 62061 auf SIL fokussiert, arbeitet ISO 13849-1 mit Performance Level (PL) – beide Wege führen jedoch zu einer risikoadäquaten Zuverlässigkeit der Funktion. Entscheidend bleibt die vollständige Kette: Sensorik, Logik, Aktorik, Software, Diagnose, Testkonzepte und die Bewertung gemeinsamer Ursachefehler.

  • Automatische Verpackungslinien: Lichtvorhänge, Schutztüren und Not-Halt-Funktionen müssen bei Unterbrechung oder Betätigung das System sicher stoppen – mit definierter Reaktionszeit und sicherem Auslauf.
  • Kollaborative Robotik: Begrenzte Geschwindigkeit und Kraft, sichere Momentüberwachung und Zonenüberwachung – häufig mit Anforderungen im Bereich SIL 2/SIL 3 bzw. PL d/e.

Schienenverkehr: EN 5012x-RAMS-Familie

Im Bahnsektor definieren EN 50126 (RAMS), EN 50128 (Software) und EN 50129 (sicherheitsrelevante elektronische Systeme) die Erwartungen an Architektur, Softwarequalität, Testtiefe und Nachweise. Auch hier dienen SIL-Konzepte, strenge Unabhängigkeitsanforderungen und Maßnahmen gegen gemeinsame Ursachefehler als rote Fäden. Je höher die Kritikalität – etwa bei Zugbeeinflussung und Stellwerkstechnik – desto stärker zählen mehrkanalige Architekturen, deterministische Softwareentwicklungsprozesse und nachweislich robuste Validierungsstrategien.

  • Zugsteuerung und Zugsicherung: Bei drohender Kollision aktiviert das System die Bremsung automatisch. SIL 4 verlangt extrem niedrige Ausfallwahrscheinlichkeiten, stringente Unabhängigkeit der Kanäle und umfassende Prüfungen vor der Inbetriebnahme und im Betrieb.

Prozessindustrie: EN 61511 als Ableitung von DIN EN IEC 61508 – die universelle Grundlage der funktionalen Sicherheit

In Chemie, Öl und Gas sowie in der Raffinerie- und Gasanlagenwelt bildet EN 61511 den Referenzrahmen für Safety Instrumented Systems (SIS). Sicherheitsfunktionen (SIF) erhalten jeweils einen SIL, basierend auf den Risiken aus Prozessgefahrenanalysen wie HAZOP oder LOPA. Sensoren, Logik und Aktoren müssen diagnostizierbar und testbar sein; Proof-Tests in geplanten Intervallen sichern die geforderte Verfügbarkeit der Funktion ab.

  • Überdruck- und Temperaturbegrenzung: SIFs schalten bei überschrittenen Grenzwerten ab, entlasten oder fahren Anlagen in einen sicheren Zustand – mit nachgewiesener PFDavg und mit dokumentierten, realistischen Testintervallen.
  • Trennprinzipien: Physisch getrennte Leitungswege, Energieversorgung und Diversität in Sensorik/Logik reduzieren gemeinsame Ursachefehler.

Kernenergie: IEC 61513 in der Praxis

Wenn Ausfälle ganze Regionen gefährden könnten, steigen die Anforderungen stark. IEC 61513 präzisiert Sicherheits-, Überwachungs- und Steuerungsfunktionen für nukleare Anlagen. Mehrkanalige Architekturen (z. B. 2oo3, 2oo4) und strikteste Anforderungen an Softwareentwicklung, Konfigurationsmanagement und Verifikation gehören zum Standardrepertoire.

  • Schutzsysteme und Reaktorschnellabschaltung: Diversität über verschiedene Messprinzipien, voneinander unabhängige Versorgungsebenen und deterministische Laufzeitverhalten bilden die Grundlage für die geforderte Integrität.

Luftfahrt: DO-178C/DO-254 und funktionale Sicherheit

Die Luftfahrt nutzt mit DO-178C (Software) und DO-254 (Hardware) ein eigenes, streng zertifiziertes Set an Regeln mit Kritikalitätsstufen A–E. Idee und Philosophie ähneln 61508: strikte Nachweisführung, vollständige Traceability, deterministische Anforderungen an Design und Test sowie unabhängige Verifikation. Die Unterschiede liegen im Zulassungsprozess und in der luftfahrtspezifischen Terminologie.

DIN EN IEC 61508 – die universelle Grundlage der funktionalen Sicherheit: Die vier Pfeiler im Detail

  1. Safety Lifecycle
    • Von der Konzeptphase über die Gefährdungs- und Risikoanalyse bis zu Spezifikation, Architektur, Implementierung, Inbetriebnahme, Betrieb, Änderung und Außerbetriebnahme.
    • Sie prüfen und bestätigen die Sicherheitsziele nicht nur am Projektende, sondern kontinuierlich – mit klaren Übergaben, Meilensteinen und Review-Gates.
  2. SIL und Zuverlässigkeit
    • SIL 1 bis SIL 4 adressieren steigende Anforderungen an die Risiko-Reduktion. Die Norm unterscheidet niedrige und hohe Anforderungsraten (PFDavg vs. PFH) und verlangt geeignete Diagnose- und Teststrategien.
    • Hardware-Architektur, Ausfallraten, diagnostische Abdeckung und Proof-Test-Intervalle beeinflussen das Ergebnis – ebenso die Qualität systematischer Maßnahmen in Entwicklung und Betrieb.
  3. Risikobewertung und Dokumentation
    • Sie identifizieren Gefährdungen, bewerten Risiken, leiten Sicherheitsfunktionen ab und begründen den Ziel-SIL – mit nachvollziehbaren Methoden wie HAZOP, FMEA, Fehlerbaum (FTA) oder LOPA.
    • Die Dokumentation enthält Annahmen, Datenquellen, Berechnungen, Architekturbewertungen, V&V-Pläne, Testprotokolle und Betriebs-/Wartungskonzepte.
  4. Unabhängigkeit, Redundanz und Diversität
    • Redundanz wirkt nur, wenn gemeinsame Ursachefehler minimiert werden: getrennte Versorgungen, physische Trennung, unterschiedliche Technologien, unabhängige Software-Instanzen und robuste EMV-Strategien.
    • Höhere SIL erfordern häufig erhöhte Kanalzahl, höhere diagnostische Abdeckung und strengere Unabhängigkeit bei Spezifikation, Review und Validierung.
  5. Kompetenz- und Änderungsmanagement
    • Die Norm fordert nachweisliche Kompetenz der Beteiligten. Schulung, Erfahrung und klare Verantwortlichkeiten sichern die Qualität in allen Phasen.
    • Änderungen (Hardware, Software, Logik, Intervalle) laufen über ein formalisiertes MOC-Verfahren inklusive Auswirkungsanalyse und Aktualisierung der SIL-Nachweise.

Typische Fehler und wie man sie vermeidet nach DIN EN IEC 61508 – die universelle Grundlage der funktionalen Sicherheit

  1. Gemeinsame Ursachefehler unterschätzen: Gemeinsame Energieversorgung, ungetrennte Kommunikationspfade oder gleiche Firmware-Stände heben Redundanz auf.
  2. Auf Einzelzertifikate vertrauen: Ein SIL-3-Sensor macht kein SIL-3-System. Nur die vollständige Kette und ihre Integration zählen.
  3. Proof-Tests vernachlässigen: Funktionen mit seltener Anforderung benötigen realistische, durchführbare Testintervalle und -abläufe.
  4. Änderungen nicht bewerten: Jede Modifikation verlangt eine Auswirkungsanalyse – sonst erodiert die nachgewiesene Integrität.
  5. Kompetenzlücken: Ohne geschulte Teams misslingen Spezifikation, Verifikation und Betrieb. Verantwortlichkeiten und Trainingspläne gehören ins FSM-Konzept.
  6. Unrealistische Datenbasis: Falsche Ausfallraten, unpassende Diagnoseraten oder optimistische Intervalle führen zu rechnerischen SIL, die die Realität nicht abbilden.

Wirtschaftlicher Nutzen, Compliance und Akzeptanz

  1. Weniger Stillstände und Vorfälle: Wer Risiken systematisch adressiert, entdeckt Schwachstellen früher und vermeidet kostspielige Ereignisse.
  2. Höhere Rechtssicherheit: Kunden, Behörden und Versicherer erwarten nachvollziehbare Sicherheitskonzepte – 61508-basierte Nachweise erhöhen die Akzeptanz.
  3. Stärkeres Vertrauen: Projekte mit sauberer V&V-Dokumentation gelten als verlässlich und wartbar, was Beschaffungsentscheidungen positiv beeinflusst.
  4. Langfristige Effizienz: Der initiale Aufwand zahlt sich durch geringere Ausfallkosten, planbare Instandhaltung und bessere Asset-Verfügbarkeit aus.

Praktische Umsetzung nach DIN EN IEC 61508 – die universelle Grundlage der funktionalen Sicherheit

  • Scope und Ziele festlegen: Grenzen, Betriebsmodi, Schnittstellen, Umgebungsbedingungen und akzeptable Restrisiken definieren.
  • Gefährdungen identifizieren und bewerten: Geeignete Methoden wählen (z. B. HAZOP, FMEA, FTA, LOPA) und die Begründung dokumentieren.
  • Sicherheitsfunktionen ableiten und SIL zuordnen: Anspruchsklassen pro Funktion definieren – inklusive Anforderungsrate, Reaktionszeit und sicherem Zustand.
  • Architektur konzipieren: Sensorik/Logik/Aktorik, Redundanzgrade (z. B. 1oo2, 2oo3), Diagnose- und Überwachungsstrategien, EMV- und Umweltrobustheit.
  • Zuverlässigkeit berechnen und belegen: PFDavg/PFH, diagnostische Abdeckung, Hardware-Fault-Tolerance, Beta-Faktoren für gemeinsame Ursachefehler, realistische Proof-Test-Intervalle.
  • Software systematisch entwickeln: Anforderungen, Architektur, Codierregeln, statische/dynamische Tests, Traceability, Konfigurations- und Änderungsmanagement.
  • Verifikation und Validierung planen und durchführen: Unabhängige Reviews, Testabdeckung, Black-Box-/White-Box-Tests, Integrations- und Abnahmetests mit definierten Akzeptanzkriterien.
  • Inbetriebnahme und Übergabe: Testprotokolle, Abweichungsmanagement, Schulungen, Betriebs- und Wartungsanweisungen, Ersatzteil- und Diagnostikkonzepte.
  • Betrieb, Inspektion, Maintenance: Proof-Tests, Funktionsprüfungen, Störungs- und Ereignismanagement, periodische Wirksamkeitsreviews.
  • Änderungen steuern (MOC): Jede Änderung klassifizieren, Auswirkungen neu bewerten, Nachweise aktualisieren und Lessons Learned zurück in den Lifecycle führen.

Fazit

DIN EN IEC 61508 dient als Schirmnorm, unter dem sich branchenspezifische Regeln logisch einordnen. Wer den Sicherheitslebenszyklus ernst nimmt, SIL-Ziele faktenbasiert zuweist, Redundanz klug gestaltet und Kompetenz- sowie Änderungsmanagement verankert, senkt Risiken messbar – und überzeugt Auditoren, Auftraggeber und Betreiber gleichermaßen. Am Ende schützt die Norm nicht nur Menschen und Sachwerte, sondern stabilisiert Prozesse und stärkt die Wettbewerbsfähigkeit.

FAQ: DIN EN IEC 61508 – die universelle Grundlage der funktionalen Sicherheit

Für wen gilt DIN EN IEC 61508 und was umfasst sie?

Sie richtet sich an Organisationen, die sicherheitsbezogene E/E/PE-Systeme entwickeln, integrieren, betreiben oder instand halten. Sie legt den Sicherheitslebenszyklus, SIL-Philosophie, Rollen, Nachweise, Verifikation/Validierung sowie Anforderungen an Dokumentation und Kompetenz fest.

Unterscheiden sich SIL, PL und DAL?

Ja. SIL (61508/62061) und PL (ISO 13849-1) verfolgen dasselbe Ziel der risikoadäquaten Zuverlässigkeit, nutzen jedoch andere Berechnungs- und Nachweislogiken. DAL (DO-178C/DO-254) ist luftfahrtspezifisch und beschreibt Kritikalitätsstufen mit eigenen Nachweiswegen.

Reicht ein SIL-3-Komponentenzertifikat für ein SIL-3-System?

Nein. Ein einzelnes Zertifikat garantiert nicht die Systemintegrität. Entscheidend sind Architektur, Integration, Diagnose, Proof-Tests, Datenbasis und die Beherrschung gemeinsamer Ursachefehler über die gesamte Funktionskette.

Wie oft muss ich Proof-Tests durchfuhren?

Das hängt vom Ziel-SIL, den Ausfallraten, der diagnostischen Abdeckung und der Anforderungsrate ab. Wählen Sie Intervalle so, dass die geforderte PFDavg/PFH nachweislich eingehalten wird – realistisch ausführbar, mit klaren Prozeduren und Akzeptanzkriterien.

Welche Rollen und Kompetenzen fordert die Norm?

Benannte Verantwortliche für Spezifikation, Design, Verifikation/Validierung, Betrieb und Änderung. Nachweisbare Qualifikation, Unabhängigkeit bei Reviews und ein dokumentiertes Kompetenzmanagement sind verpflichtend, um systematische Fehler zu minimieren.

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